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GulichDr. Joachim Gulich LL.M.
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Wann schreit ein unangemessen niedrig erscheinender Preis nach Aufklärung?

Vergaberecht - 06.02.2023

EuGH, Urteil vom 15.09.2022 – C – 669/20 „Veridos“

Die Vergabekammer des Bundes hatte mit Beschluss vom 15.11.2021 (VK 1-112/21) klargestellt, dass öffentliche Auftraggeber verpflichtet sind, die Preisbildung eines Angebotes zu prüfen, sofern der Abstand zwischen dem Angebot des bestplatzierten und dem Angebot des zweitplatzierten Bieters mehr als 20 % beträgt.

Sachgerechte Aufklärung muss alle preisrelevanten inhaltlichen Aspekte des Angebots einbeziehen. Sie erfordert eine konkrete Auseinandersetzung mit allen Angaben des Bieters in den von ihm abzufordernden Unterlagen über die Preisermittlung.

Der EuGH hat diesen über den bloßen Vergleich von Angebotspreisen hinausgehenden breiteren Ansatz mit Urteil vom 15.09.2022 – C – 669/20 „Veridos“ bestätigt. Zugleich hat er klargestellt, dass ein Vergleich der Angebotspreise nicht das einzige Kriterium zum Erkennen zu überprüfender Angebote ist. Das Vergaberecht kennt keine „harte“ Schwelle, deren Überschreitung erst die Aufklärungspflicht des Auftraggebers auslöst.

Die in der deutschen Vergaberechtsprechung anerkannte 20 %-Ausreißer-Grenze gibt Auftraggebern eine erste Orientierung. Die Auftraggeber müssen und dürfen aber auch jenseits von prozentualen Abstandsregelungen alle Umstände des Einzelfalls prüfen. Erscheint der Vergabestelle ein Angebot aus anderen Gründen als dem Preisabstand als ungewöhnlich niedrig, hat sie Aufklärung von dem betroffenen Bieter zu verlangen.

Für die Praxis erweitern sich Dokumentationspflichten einerseits, Handlungsspielräume andererseits:

  • Die Vergabestelle kann sich nicht schematisch auf das Unterschreiten einer Aufgreifschwelle (von 20 %) verlassen, um von einer Preisaufklärung abzusehen. Sie sollte (neben dem geringeren Preisabstand zum nächsthöheren Angebot) im Vergabevermerk vorsorglich erörtern und dokumentieren, dass ihre Wertung auch keine weiteren Umstände zeigt, die ein Angebot als ungewöhnlich niedrig erscheinen lassen.
  • Will die Vergabestelle trotz eines relativ geringen Preisabstands aufklären, kann sie mit Bezug auf die EuGH-Entscheidung „Veridos“ weitere Merkmale heranziehen und ihre Einschätzung in einen relativ breiten, nicht vergaberechtlich nachprüfbaren subjektiven Beurteilungsspielraum betten (vollständige Sachverhaltsermittlung vorausgesetzt).